Bücher lesen kann jeder. Aber einem vergessenen Werk eine neue Bedeutung einhauchen? Moriel Briller macht genau das: Kunst für das Auge, das Hirn und das Herz – weit über die Literatur hinaus. Sie stehen einfach da und faszinieren. Es scheint, als würden uns die Bücher erst durch die Kunst Brillers ihre wahren Geheimnisse verraten. Dahinter steckt immer eine Formel, die Moriel Briller feinsäuberlich ausmisst und errechnet. In Jerusalem studierte Briller Darstellende Kunst und machte Performances und Theater. Mit mittlerweile vier Kindern und ihrem Mann, ebenfalls Künstler, ging es dann ein paar Jahre später auf Weltreise. Die letzte Station, Berlin, gefiel allen so gut, dass die Familie dort heimisch wurde.
Steht man in dem hellen, offenen Ladenraum am Neuköllner Maybachufer, dann kann man beobachten, wie die Menschen draußen vor dem Schaufenster voller Entzückung innehalten. Sie blicken auf die Bücher, die im Fenster stehen. Von hinten sehen sie aus wie gewöhnliche in die Jahre gekommene Buch-Bände – aber von vorne hebt sich aus ihren Seiten ein Relief hervor. Ihre Buchrücken sind zu Rahmen geworden für unbegreifliche dreidimensionale Bilder.
Als Moriel Briller vor zwei Jahren kistenweise ausgemusterte Bücher in einer Toreinfahrt fand, erinnerte sie sich wieder daran, dass sie einmal als Teenager in Paris ein Buch mit gefalteten Seiten gesehen hat. Also nahm sie die Kisten mit nach Hause und begann zu falten. „Und es war sofort klar, dass ich das weitermachen musste“, versucht sie diesen Moment zu beschreiben, der am Anfang stand. Von da an faltete die Israelin immer neue Bilder in Buchseiten.
„Zuerst muss man das Motiv übersetzen“, erklärt Moriel Briller. Man muss ein Buch auswählen, das zu dem Motiv passt, nicht nur vom Titel, auch die Papierart muss stimmen. „Jedes Buch ist anders.“ Dann zählt man die Seitenzahlen, misst die Buchhöhe und schreibt für jede Seite die Abstände auf, die gefaltet werden müssen. „Das ist die eigentliche Arbeit.“ Sie zeigt ein Buch mit einem Yin-Yang-Symbol: „614 Knicke, also 614 Messhöhen.“ Wenn man erst mal alles ausgerechnet hat, kommt die Belohnung: „Das Falten selbst ist wie Meditieren“, sagt Moriel Briller, „der Geist entspannt.“ Und dann: „Inzwischen brauche ich diesen Zustand regelrecht. Es ist ein Geschenk!“
Und das will sie auch weitergeben. In Workshops zeigt sie die Technik – und freut sich, je mehr Menschen zu ihr in das Studio im Laden kommen. „Warum sollte ich das für mich behalten?“ Es waren gerade erst ein paar Frauen aus einer Bücherei da. Die zeigen jetzt wiederrum den Kindern das Bücherseiten-Falten, verkaufen die ausgemusterten Bücher ihrer Bibliothek als Kunstwerke, um sich so neue Bücher leisten zu können. „So muss es doch sein: Ein Kreislauf!“ Moriel Briller strahlt und man möchte sofort mitmachen.